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After Lunch Post: Zum Essen mit Sighard Neckel

von Michael Brüggemann

Wie kommt die Gesellschaft in die Zukunft? Sighard Neckel, Professor für Soziologie an der Universität Hamburg, unterscheidet drei Szenarien.

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Prof. Sighard Neckel

(1) Modernisierung. Dies ist der Merkel-Weg, den die meisten westlichen Politiker:innen gehen. Sie erkennen die vor uns liegenden ökologischen Probleme durchaus an, wagen aber nur kleine Schritte Richtung Klimaschutz, Nachhaltigkeit, aber ohne große Veränderungen an den Logiken von Konsumgesellschaft und Wachstumsdenken. Damit befinden wir uns auf dem Weg zu 2,7 Grad, wie gerade ein Bericht der UN-Umweltbehörde UNEP ausgerechnet hat – was harmlos klingt, birgt gewaltige Risiken für Menschheit und Ökosysteme.

(2) Transformation. In dieser Vorstellung der Zukunft verändert sich die Gesellschaft strukturell im Hinblick auf eine ganze Reihe von Dimensionen. Eine andere Form des Wirtschaftens, Konsumierens, Arbeitens wird, getrieben von zivilgesellschaftlichem Engagement und im offenen demokratischen Dialog, inklusive Konflikte und Auseinandersetzungen, entwickelt.

(3) Kontrolle. Zunehmende Katastrophenereignisse triggern in diesem Szenario eine Anpassung mit dem Ziel der Stärkung von Resilienz, also Widerstandskraft. Dazu gehört ein autoritäres und vor allem technisches Umsteuern, wenn es schon zu spät ist, zum Beispiel mithilfe von Climate Engineering, wobei durch dieses Umsteuern Einschränkungen der demokratischen Ordnung und ganz neue ökologische Risiken in Kauf genommen werden.

Diese (hier noch grob in meinen Worten zusammengefasste) Unterscheidung von drei Imaginationen lässt sich genauer in „Modernisierung, Transformation oder Kontrolle? – Die Zukünfte der Nachhaltigkeit“ nachlesen.

Sighard Neckel sitzt mir im Abaton in Hamburg gegenüber und trinkt frischen Ingwer und Pfefferminz, während wir spekulieren, wohin unsere Gesellschaft steuert und welchen Weg eine zukünftige Bundesregierung in der Kombination aus Grünen, FDP und SPD – als Kräften, die jeweils unterschiedliche Wege favorisieren – einschlägt.

Neckels Professur in Hamburg lautet auf „Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel“. Zusammen mit Frank Adloff leitet er seit 2019 die Kollegforschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“. Die Gruppe erforscht Imaginationen von Zukunft. Aber welche Zukunft wird uns tatsächlich ereilen? Wichtig seien Infrastrukturen, die nachhaltiges Umsteuern ermöglichen, aber auch Ereignisse (wie die Flutkatastrophe dieses Jahr im Ahrtal) und die Interaktion zwischen beidem, analysiert Neckel beim Warten auf das Mittagessen.

Ein weiterer Faktor sind natürlich die Vorstellungen von Zukunft selbst, die Handeln mitprägen und damit auch die Zukunft. Hier überlappen sich die Forschungsinteressen mit unserem Forschungsprojekt Social Constructions of Climate Futures am Exzellenzcluster CliCCS. In einer ersten explorativen Inhaltsanalyse von Nachrichtenmagazinen in fünf Ländern (gerade zur Publikation akzeptiert bei Journalism Studies, Erstautor: Lars Guenther) beobachtet unser Forschungsteam, dass im Journalismus, im Gegensatz zum intellektuellen, akademischen Diskurs der Weg der Transformation, also ein fundamentales Hinterfragen unserer Gesellschaftsordnung und eine tiefergehende Diskussion von Alternativen zur ökonomischen Wachstumsideologie praktisch nicht vorkommt – jedenfalls nicht im Rahmen der großen Titelgeschichten, die Nachrichtenmagazine in Indien, USA, Großbritannien und Deutschland in den letzten dreißig Jahren über unsere gesellschaftliche Zukunft im Kontext des Klimawandels veröffentlicht haben. Der dominante Weg der Modernisierung in Trippelschritten in Kombination mit gelegentlicher Diskussion radikaler technischer Maßnahmen des Climate Engineerings ist auch in der journalistischen Debatte dominant.

Und welche “Theories of Change” hat die Wissenschaft zu bieten (also Theorien, die erklären, wie umfassender gesellschaftlicher Wandel möglich wird)? Dazu beobachtet Sighard Neckel, dass es einerseits die allgemeinen Theorien gesellschaftlichen Wandels in der Soziologie gibt und andererseits Theorien der Nachhaltigkeitsforschung, die die Gesellschaft praktisch als Individuum ansehen und so Veränderung auf Mikro-Ebene erklären wollen. Dazwischen klaffe eine Lücke, die die Verbindung zwischen individuellem Verhalten und gesellschaftlichen Strukturen erklärt. Dazu würde ich noch ergänzen, dass in diese Lücke auch die Rolle von Organisationen gehört, wie zum Beispiel die Universität selbst. Wenn ich auf einen Flug verzichte, ist der Effekt natürlich minimal. Wenn die Uni insgesamt (und vergleichbare große Organisationen) mit Nachhaltigkeit ernst machen würde, dann wäre das schon ein größerer Schritt. Der zukünftige Uni-Präsident Hauke Heekeren hat übrigens gerade angekündigt, Nachhaltigkeit ganz nach oben auf seine Agenda zu stellen.

So gehen wir mit Hausaufgaben aus diesem Essen, sowohl für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung als auch für uns als Teil der Universität Hamburg…

 

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