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Die Zukunft der Nachrichtenauswahl

von Susan Jörges

Welche Nachrichten erreichen uns?
Welche Nachrichten erreichen uns?

Fast täglich werden Nachrichten zu den katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels in Zeitungen, Fernseh- und Radionachrichten veröffentlicht. Die Korallenriffe in Weltmeeren schrumpfen so stark wie noch nie, Brände wüten in noch nie dagewesenem Ausmaß in den Wäldern Australiens, ein neues Klimapaket soll die große Wende bringen. Tatsachenorientierte Berichterstattung über die Folgen des fortschreitenden Klimawandels ist absolut unabdingbar – und doch fehlt hierbei ein entscheidender Schwerpunkt. Neben Faktenorientiertheit und Aufklärung müssen Journalisten und Medienmacher ihren LeserInnen und ZuschauerInnen Lösungsvorschläge, Handlungsoptionen und motivierende Inspirationen mit an die Hand geben, um zum Aktivwerden, zur Nachhaltigkeit und zum Umdenken anzuregen. Statt einer reinen Orientierung an herkömmlichen Nachrichtenfaktoren sollten sich Journalisten an einem neuen Faktor orientieren: der Zukunftsrelevanz.

Nachrichtenfaktoren erleichtern Journalisten die Auswahl

Der Alltag in Redaktionen ist meist hektisch, aktuelle Nachrichten erscheinen fortlaufend im Posteingang und müssen verarbeitet werden. Welche Themen es auf die Titelseite der morgigen Zeitung schaffen oder auf Platz eins der Online-Ausgabe gesetzt werden, entscheiden Journalisten, die am Newsdesk Nachrichten nach ihrer Wichtigkeit selektieren.  Nicht jedes der unzähligen Ereignisse kann von Medien publiziert und von Rezipienten aufgenommen werden. Was ZeitungsleserInnen, Nachrichten-App-NutzerInnen und Tagesschau-ZuschauerInnen lesen oder sehen, ist gefiltert. In der Medien- und Kommunikationswissenschaft werden die Selektionskriterien von Journalisten und anderen Medienmachern als Nachrichtenfaktoren bezeichnet: Nähe, Sensation, Relevanz, Schaden oder Identifikation sind beispielsweise Faktoren, die die Veröffentlichung einer Nachricht begünstigen können. Findet eine Umweltkatastrophe im benachbarten Frankreich statt und sind zudem Deutsche Opfer des Unglücks, wird dieses mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in die Titelthemen gelangen als ein Busunglück in Paraguay.

So bilden Nachrichtenfaktoren einen bewährten und etablierten Leitfaden in der Nachrichtenberichterstattung und gewährleisten eine rasche und umfassende Themenaufbereitung. Im Falle der Klimaberichterstattung ist jedoch entscheidend, Rezipienten nicht mit der Nachricht selbst, die erschütternd und demotivierend sein kann, allein zu lassen. Medien haben die Kraft zu mobilisieren – ebendiese Wirkung muss genutzt werden, um einen Richtungswechsel im Handeln zu erreichen und Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen. Zukünftig sollte verstärkt ein Augenmerk auf ein besonders wichtiges Thema gerichtet werden: die Zukunftsrelevanz. Statt sich hauptsächlich auf Negativereignisse in Folge des Klimawandels zu konzentrieren, sollte ebenfalls auf naturwissenschaftliche Erfindungen, technische Alternativlösungen und gesellschaftliches Engagement eingegangen werden, um so eine ausgeglichene Berichterstattung zu gewährleisten, die ein realistisches Bild der aktuellen Lage unserer Welt darstellt.

Es gibt genügend positive Nachrichten, man muss sie nur zeigen

Material für ebendiese Positivnachrichten gibt es reichlich: Gegen Plastikmüll und Mikroplastik in den Meeren hilft der Einkauf im Unverpackt-Laden und der Griff zur plastikfreien Zahnpasta. In Laboren wird zu alternativen Energien und Rohstoffverwertungen geforscht, Solarzellen auf dem Dach und Wärmepumpen für Warmwasser sind handhabbare Optionen für den privaten Klimaaktivismus. Die eigene Handlungsmacht kann Hoffnung säen und der Ohnmacht angesichts der schockierenden Fakten und Zahlen zu Eisschmelze, Meeresverschmutzung und Artensterben entgegenwirken. Die beliebten Nachrichtenfaktoren wie Nähe, Relevanz oder Betroffenheit stoßen bei der Klimaberichterstattung an ihre Grenzen. Denn nicht nur Fortschritte in Laboren, Büros und Think Tanks Deutschlands und seiner Nachbarländer sind von Bedeutung. Wichtig sind Ideen in jedem Land der Welt, mit denen Zukunft neugestaltet werden kann.

Sicherlich werden zukunftsrelevante Themen des Öfteren von Medien aufgegriffen, indem nachhaltige Modelabels, klimafreundliche Ernährungsweisen oder Start-ups mit cleveren Ideen vorgestellt werden. Dennoch sollten bei der Nachrichtenauswahl nicht nur Projekte und Initiativen des jetzigen oder vergangenen Jahrzehnts berücksichtigt werden, sondern vermehrt auf die großen Hoffnungsträger der Forschung eingegangen werden, die möglicherweise erst in den kommenden Jahrzehnten Gestalt annehmen werden. Statt in Zeiträumen von fünf bis zehn Jahren zu denken, brauchen wir Weitsicht, Optimismus, Kreativität und Offenheit. Nicht nur ist relevant, was in absehbarer Zeit für den Klimaschutz getan werden kann. Denn wer hauptsächlich mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert sein wird, sind die Generationen nach uns. Um deren Leben zu sichern und die Entwicklungen von zukunftssichernden Technologien, Ideen und Erfindungen zu fördern, müssen Journalisten intensiv über diese berichten.

Unsichere Zukünfte schrecken Redaktionen ab

Der Grund, weshalb die Zukunftsrelevanz in vielen Redaktionen aktuell nicht als primäres Auswahlkriterium angewandt wird, ist offensichtlich: Zukunft ist unsicher, was morgen, übermorgen und in 20 Jahren sein wird, weiß niemand mit absoluter Sicherheit. So steht die Auswahl nach der Zukunftsrelevanz mit dem Nachrichtenfaktor Faktizität in einem Spannungsverhältnis. Was von Journalisten publiziert wird, sollte nach dem Zweiquellenprinzip belegt werden können und handfest sein, über Zukunftsszenarien zu spekulieren wiederspricht diesem Prinzip. Doch wie eingangs erwähnt, geht es nicht um die Heraufbeschwörung spekulativer Szenarien, sondern um die Darstellung möglicher Entwicklungen, um die Berichterstattung über hoffnungsvoller Forschungserkenntnisse und um die Präsentation umsetzbarer Handlungsoptionen für verschiedene Zielgruppen.

Wir brauchen neue Regeln für die Auswahl zukunftsrelevanter Themen

Wie kann die Berücksichtigung der zukunftsrelevanten Themen nun erfolgreich in Redaktionen umgesetzt werden? Zum einen braucht es ein strukturiertes Regelsystem oder ein redaktionelles Handbuch, welches die Auswahl zukunftsrelevanter Themen in Redaktionen etabliert und routinisiert. Des Weiteren wäre eine Kontrollinstanz oder ein Kontrollmechanismus denkbar, der die Publikation der Artikel zu einem zukunftsrelevanten Thema in Zeitungen weltweit abgleicht und überprüft, ob wichtige Erfindungen, Fortschritte, Veränderungen oder Handlungsweisen in den Medien thematisiert werden. Eine weltweit agierende Agentur, die in Kontakt zu Wissenschaftsinstituten, Umweltvereinen und Start-Ups steht, könnte in Datenbanken Nachrichten und Meldungen zu dieser Thematik sammeln, um den Alltag der Journalisten zu erleichtern und Wissen zu generieren. Auch Privatpersonen könnten dort ihr Engagement oder ihre Ideen hinterlegen. Eine Initiative der Krautreporter, einem unabhängigen deutschen Online-Magazin, zeigt, wie das gehen könnte: Eine Facebook-Gruppe sammelte im Jahr 2019 monatlich gute Nachrichten, die dann veröffentlicht wurden. Journalisten könnte Sammelbeitrage oder Datenbanken wie diese auswerten und entscheiden, worüber sie näher berichten und wozu sie tiefgehender recherchieren möchten. Nicht zuletzt sind ein ständiger Austausch und die Überprüfung der redaktionellen Linie durch Teamsitzungen und Feedback-Schleifen wichtige Bausteine, um diese Neuerung umzusetzen. Wöchentliche Formate könnten Raum auf Zeitungsseiten schaffen, um zukunftsrelevante Themen vorzustellen und Interviews mit Wissenschaftlern oder Privatpersonen einzubauen. Beispielhaft hierfür sind Qualitätsmedien wie Die ZEIT oder die Süddeutsche, doch auch kleinere Zeitungen auf regionaler und lokaler Ebene müssten Formate über zukunftsrelevante Themen konsequenter umsetzen, damit auch deren Leserkreis informiert und angeregt wird.

Unangetastet bleiben sollte die Sorgfaltspflicht eines jeden Journalisten. Bei der Entscheidung über die Publikationswürdigkeit eines Ereignisses müssen Kriterien wie Sinnhaftigkeit, Wichtigkeit und Belegbarkeit eines Ereignisses oder einer Information überprüft werden, um Qualitätsjournalismus zu garantieren. Auch in Zukunft können Nachrichtenfaktoren als Richtlinie bei der Auswahl von Ereignissen dienen. Doch nur wenn die Zukunftsrelevanz dem etablierten Repertoire der Nachrichtenfaktoren hinzugefügt wird, kann Verantwortung und umfassende Qualität in der Klimakommunikation erreicht werden.

 

Siehe auch: 99 gute Nachrichten aus dem Jahr 2019, gesammelt von den Krautreporter-LeserInnen

 

 

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